Luther

Im Jahr 2017 haben wir fünfhundert Jahre Reformation gefeiert. Fünfhundert Jahre nach der Trennung zwischen der katholischen und evangelischen Kirche konnte diese Gedenkfeier vor allem mehr Einheit zwischen den Konfessionen bringen. Durch die ökumenische Bewegung haben die großen Varianten des Christen­tums sich im 20. Jahrhundert kennengelernt. Vom Katholizismus haben wir als Evangelische den Reichtum der Liturgie entdeckt und eine viele Sinne ansprechende Spiritualität. In der Orthodoxie des Ostens entdeckten wir die uralte christliche Bilderwelt der Ikonen. Mein ökumenischer Beitrag zur 500-Jahr-Feier der Reformation war diese erste Luther-Ikone. Als evangelischer Ikonenmaler fühlte ich mich dazu regelrecht berufen.
Die Ikone zeigt Luther mit der Bibel in der Hand. Darauf geschrieben ist eine seiner zentralen Einsichten: das Sola scriptura. Luther entdeckte, dass die Bibel die Basis für gute Theologie ist. Das „Solus Christus“, verborgen unter seiner rechten Hand und nah am Herzen, bildete für ihn die Mitte der Heiligen Schrift. Nur Christus ist das Fundament unseres christlichen Glaubens.
Ich habe diese Ikone gemalt um zum Nachdenken anzuregen. Ich bin mir bewusst, dass sie für manche eine Herausforderung ist.
Für Orthodoxe ist die Abbildung von einem modernen Menschen kaum zu akzeptieren. Er sieht nicht aus wie ein Heiliger, sondern wie mein Nachbar! Die Themen der Ikonen sind die Inhalte der Glaubenslehrer und sie müssen mit dem wahren Glauben (orthos-doxa) übereinstimmen. Die Orthodoxen würden es eine ikonen-ähnliche Abbildung nennen und schulterzuckend akzeptieren, dass ein evangelischer Maler so frei mit ihren heiligen Bildern umgeht.
Bei den evangelischen Christen werden nicht wenige sich fragen, ob Luther sich nicht im Grabe umdrehen würde, wenn er sich hier als Heiliger abgebildet sehen würde. Hat er nicht gerade die Heiligenverehrung abgeschafft? Ich halte dagegen, dass der evangelische Personenkult um Luther, insbesondere beim kommenden Reformationsjubiläum 2017, kaum von Heiligenverehrung zu unterscheiden ist!
Dennoch hatte auch ich Zweifel, ob man dies so malen darf und darum habe ich versucht den Aspekt der Heiligkeit auf dieser Ikone neu zu gestalten. Den Heiligenschein habe ich nicht so stark hervorgehoben wie auf anderen Ikonen üblich; er verschwindet fast im gelblichen Hintergrund. Dafür hat aber die Heilige Schrift einen breiten goldenen Rand und einen roten Rahmen wie jeder Heiligenschein auf Ikonen. Das eigentliche Heilige ist hier die Heilige Schrift!
Dennoch – Luther hat hier unverkennbar eine Aura. Aber, je mehr ich darüber nachgedacht habe, desto stärker wurde ich davon überzeugt, dass Luther sich nicht an dieser Darstellung gestört hätte. Hat er doch selbst im Jahr 1505 in einem bedrohlichen Gewitter die Heilige Anna angerufen und ihr später für seine Rettung gedankt. Wir wissen auch, dass Luther Maria, die Mutter Jesu Christi, verehrte. Und noch heute gibt es in vielen evangelisch-lutherischen Kirchen Mariendarstellungen.
Luther hatte nichts gegen Heilige als Inspiration für den Glauben, er hatte etwas gegen Heiligenanbetung! Er fürchtete, dass die Heiligenanbetung die Anbetung Gottes ersetzen könnte. Auch verwarf er den Reliquienkult und die sehr ausgeprägte Heiligenverehrung der mittelalterlichen Kirche, weil sie den Glauben an Christus ersetzen könnte. Nur Jesus Christus ist der Zugang zu Gott, oder wie in 1. Tim 2,5 steht: der Mittler.
Heilige sind in evangelischer Sicht Christinnen und Christen, die uns den Glauben vorgelebt und weitergegeben haben. In dem Sinne, sind alle Mitglieder der Christengemeinde „Heilige“ und kann – wie Luther im Neuen Testament vielfach gelesen hat – die Kirche als „Gemeinschaft der Heiligen“ bezeichnet werden. Wenn wir „Heilige“ so im evangelischen Sinne umschreiben, sind sie nicht mehr „makellose“, moralisch fehlerfreie Menschen. Heilige sind Christinnen und Christen wie du und ich. Wie dein Nachbar eben.
Wer sich etwas intensiver mit den Heiligen in der 2000 Jahre alten Geschichte des Christentums beschäftigt hat, entdeckt, dass es die „perfekten Vorbildchristen“ auch nie gegeben hat.

Was soll man davon halten, dass der Heilige Bonifatius in Fritzlar in Nordhessen, das örtliche vorchristliche Heiligtum respektlos zerstörte und an dieser Stelle eine Kapelle errichtete?

Wie perfekt war der Heilige Franziskus? Wir wissen, dass er sich wohl selbst – aus Enttäuschung über die Verweltlichung seines Ordens – in selbst­verletztendem Verhalten die Wundmale Christi zugefügt hat.

Auch der größte evangelische „Heilige“, Dietrich Bonhoeffer, war nicht so perfekt, wie wir denken. Er war Kettenraucher und im Gefängnis, so schreibt er in seinen Briefen, sollen ihm vor allem die Zigaretten gefehlt haben.

Von einem anderen, fast heiligen evangelischen Theologen aus dieser Zeit, Karl Barth, wissen wir, dass er in konsequenter Polygamie mit seiner Frau und seiner Sekretärin lebte.

Macht dies diese, sonst auch für mich vorbildlichen Christen, geringer? Nein. Für uns als evangelische Christen sind, wie gesagt, die sogenannten “Heiligen” Menschen wie du und ich. Zu Recht hat Luther die abgehobenen und nur scheinbar perfekten Priester-und-Heiligen als Mittler zu Gott abgeschafft.
Unser aller Leben ist fragmentarisch und gebrochen.
Und genau so wie wir sind, wissen wir uns in Gott aufgehoben!
Inspirierende Christen sind nicht Menschen, deren Leben in allem gelungen ist, sondern Menschen, die – genau wie wir selbst – versucht haben ihr Leben zu meistern. Dann freut man sich umso mehr über das, was in so einem Leben gelingt:

eine aufrechte Haltung in schwieriger Lage,

eine vorbildliche symbolische Aktion, die immer noch zu denken gibt,

manche schönen und inspirierenden Gedanken,

und manchmal das richtige Tun.

In diesem Sinne schaue ich voller Respekt auf das, was Martin Luther geleistet hat.